Mittwoch, 25. Januar 2006

Der Unfall

England, der 17. Oktober 1767. Es war noch dunkel draußen als Dave Winston verschlafen den Weg zu den Stallungen entlang ging! "Seine Lordschaft, der Graf von Canterbury, wünscht auf die Jagd zu gehen, Dave. Sieh zu, dass du in die Stallungen kommst! Der Graf kann es nicht leiden, wenn sein Pferd nicht auf die Minute genau bereit steht!Du weißt, wie der Graf ist, also sieh zu!" Mit diesen unsanften Worten war Dave heute vor einer Stunde, genauer gesagt um 3.00 Uhr am Morgen, aus seiner Koje im Bedienstetentrakt gescheucht worden, hatte gerade noch Zeit für eine Katzenwäsche und sich dann gleich auf den Weg gemacht!Oh ja, er wußte wie der Graf war, so hatte er doch schon des öfteren Bekannntschaft mit dessen Reitgerte gemacht, wenn dem Grafen mal wieder etwas nicht schnell genug ging.
Die frische Morgenluft kroch Dave langsam in alle Glieder. "Es geht langsam auf den Winter zu.", hatte der alte Stallknecht Pavel gestern noch zu Dave gesagt und sich einen Schluck aus seinem Flachmann gegönnt. Dave musste grinsen. Gestern schien die Sonne noch strahlend am Himmel und Zeugen des Winters waren höchstens die bunten Blätter an den Bäumen, die sich nun langsam, getragen vom Wind, ihren Weg zum Boden suchten, doch heute sah die Welt schon ganz anders aus. Dave zog sich das Cape fester um die Schultern. Einige Tropfen fielen auf seine Kappe und Dave huschte schnell in die von den Pferden aufgewärmten Stallungen, ehe sich draußen aus den Tropfen ein Regenschauer entwickelte.
Pavel stand schon vor der Box, in der das Lieblingspferd des Grafen, ein edler Rappe, untergebracht war. "Na Dave, was habe ich gestern gesagt?!Der Winter ist im Kommen! Ich spüre das in den Knochen. Heute wird es noch einen ordentlichen Sturm geben, aber der Graf kann ja nicht hören, will unbedingt trotzdem auf die Jagd gehen. Na, der wird schon noch eines Tages sehen, was er von seinem Dickkopf hat., schimpfte Pavel vor sich hin. Dave sprang lachend mit einem Satz über die Boxentür und scherzte: "Bei dir steckt etwas ganz anderes in den Knochen, Pavel.Und nun gib mir mal die Striegel, wir wollen ja schließlich fertig werden!" Der alte Stallknecht murmelte noch etwas vor sich hin, zog seinen Flachmann ein Stück weit aus der Tasche, um ihn dann verstohlen wieder zurückzustecken. Schweigend machten die beiden sich an die Arbeit, denn umso schneller sie fertig wurden, desto eher konnten sie zu Mary, der gemütlichen und großherzigen Köchin des Grafens gehen und sich etwas zum Frühstück abholen.
Nachdem sie den Rappen fertig gestriegelt hatten, sattelten und zäumten sie ihn auf und führten ihn aus der geräumigen Box heraus. Eines musste man dem Grafen lassen, für seine Pferde war ihm nichts zu schade. Gerade waren sie aus der Box getreten, da kam auch schon der Graf um die Ecke gehuscht."Ah, ich sehe Sie sind bereits fertig, meine Herren!Wonderful!Dieses Wetter verscheucht mir noch das ganze Wild." Mit sich selber redend nahm er Dave die Zügel aus der Hand, stieg auf und war auch schon aus dem Stall heraus. Sein Gefolge kam aus den angrenzenden Stallungen, stieg ebenfalls auf seine Pferde und hoch zu Roß machte sich der Pulk auf den Weg.
Dave atmete hörbar auf. Das war ja alles nochmal gut gegangen. Nun konnte er sich auf den Weg in die warme Küche machen und sich dort eine Weile aufwärmen, bevor er dann später die Stallungen misten, die Pferde füttern und auf die Weiden bringen würde.
Er rannte schnell durch den kalten Nieselregen über den Hof und lief die Treppenstufen in den Keller hinab.
Als er die Tür öffnete, tauchte er in die wohlige Wärme der Küche ein und der Geruch von gebratenen Eiern und frischem Brot stieg ihm in die Nase. Mary drehte sich freudig um und drückte Dave erstmal, wie sie es immer zu pflegen tat, wobei Dave jedesmal das Gefühl hatte ersticken zu müssen oder zerquetscht zu werden. Kaum hatte er sich aus ihrer Umarmung gelöst, wuschelte sie ihm durch das Haar und schob ihn zu dem großen schweren Eichentisch, der in der Mitte der Küche stand. Dave wärmte seine von der Kälte steifen Finger an dem heißen Pott Kaffee, den Mary ihm hinstellte. Gierig schlang er das zubereitete Frühstück hinunter und lauschte dem allgemeinen Klatsch, den die Bediensteten in der Küche miteinander auszutauschen pflegten. Als er schon mit dem Essen fertig war und gerade aufstehen wollte, kam Robert, der Ankleider des Grafen, aufgeregt in die Küche gelaufen. "Hört, hört, hört alle her...es muss etwas Schreckliches passiert sein. Das Pferd des Grafen ist soeben ohne Reiter in den Hof eingelaufen. Es soll sofort ein Suchtrupp losgeschickt werden. Wo ist der Stallbursche? Ah, Dave, komm schnell, du sollst die Pferde aufzäumen helfen. Wir müssen uns eilen!"
Dave sprang von seinem Stuhl auf, warf sich sein Cape um die Schultern und setzte seine Kappe auf, um dann schnell durch die Kellertür in Richtung Stall aufzubrechen. Was mochte wohl passiert sein? Gewiß, Überfälle gab es des Öfteren, aber bei diesem Wetter!? Der Graf war zwar kein guter Mensch, aber schließlich war er sein Arbeitgeber. Wenn dem Grafen etwas zugestoßen war, wo sollte er dann künftig arbeiten und leben? Völlig außer Atem kam Dave an den Stallungen an. Pavel hatte derweil schon den Rappen des Grafen eingefangen und in seine Box gebracht. Der Stall füllte sich mit den Leibwachen des Grafen, die nun schnell zu den Boxen ihrer Pferde gingen, um diese fertig zu machen. Dave schnappte sich Sattel und Zaumzeug und half den Leibwachen beim Aufzäumen. Nach einer knappen halben Stunde waren alle Reiter bereit aufzubrechen. Nach einer kurzen Lagebesprechung teilten sie sich in kleinere Gruppen auf und trieben ihre Pferde in den Regen hinaus.
Dave war völlig aufgewühlt. Während er die Ställe mistete, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Er mochte diesen Mann nicht, nein noch mehr, er hasste ihn sogar, aber er wollte sich trotzdem nicht ausmalen, was wäre, wenn der Graf Opfer eines Überfalls geworden war.
Nach einer ihm endlos erscheinenden Zeit hörte er endlich Hufgetrappel und Rufe am Tor. Der Tross des Grafen ritt in den Hof ein und auf einer Bahre wurde ein leblos erscheinender Körper hinter einem der Pferde hergezogen. "Oh Gott, der Graf ist tot.", entrutschte es Dave. Pavel legte ihm die Hand auf die Schulter und deutete lachend in die Richtung der Reiter: "Ich würde mal behaupten, dass Tote sich nicht alleine Aufrichten können und Laufen erst Recht nicht!" Dave folgte dem Blick Pavels und erkannte den Grafen sofort, wie er mit seiner Reitgerte gewappnet, schon wieder Befehle erteilte. Eigentlich hätte er jetzt nur Erleichterung fühlen sollen, aber er konnte sich kaum ein hämisches Grinsen unterdrücken. Am Hintern des Grafen hing seine Reithose in Fetzen herunter und er war über und über voller Matsch.
Dave konnte es kaum erwarten, in die Küche zu kommen und zu hören, was passiert sei, doch zuerst musste er noch die Pferde versorgen. Voller Ungeduld rannte er danach in die Küche, in der eine heitere Stimmung vorherrschte. Der Graf sei auf der Jagd beim Zielen mit seiner Flinte vom Pferd gefallen und mit dem Hosenboden an einem Ast hängengeblieben. Da dieser Ast den fülligen Grafen nicht habe halten können, sei jener abgebrochen und mitsamt des Grafen in ein Matschloch gefallen.
Die nächsten Wochen war der Graf in Höchstform. Er kommandierte herum und sein Gefolge konnte ihm nichts Recht machen. Doch die Strapazen waren um einiges leichter zu ertragen als sonst, denn so richtig Ernst nehmen konnte den Grafen keiner und so wurden auch Wochen nach dem Unfall noch Geschichten und Witze über den Grafen erzählt, was zur allgemeinen Erheiterung beifügte.
KristinaD - 30. Jan, 10:08

Deine Geschichte gefällt mir wirklich gut.
Man kann gut nachvollziehen, dass die Bediensteten des Grafen noch Wochen nach seinem "Unfall" über ihn schmunzeln und sich daran erfreuen, dass auch der Graf sich einmal in einer solch misslichen Lage befunden hat. Die gemeinsame Schadenfreude macht die Schikanen, denen die Bediensteten ausgesetzt sind, wohl viel erträglicher....

torbenm - 2. Feb, 22:19

Wir haben jetzt eine neue Homepage für die Organisation unserer Weblogs: http://www.weblog-projekte.de
Schau doch mal rein!
Viele Grüße von TorbenM

kerrina - 4. Feb, 10:59

Eine wirklich nette, aus dem Leben gegriffene Geschichte. :-)

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Eine wirklich nette, aus dem Leben gegriffene Geschichte....
kerrina - 4. Feb, 10:59

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